Eine mutmachende Geschichte von Jorge Bucay.
Die Geschichte vom kleinen Elefanten ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Sie ist eine wunderschöne, mutmachende und zugleich traurige Parabel für alle von uns, die sich immer mal wieder bei Sätzen wie „Ich kann das nicht“ oder „Ich werde das nie können“ ertappen.
Der argentinische Autor und Psychotherapeut Jorge Bucay zeigt mit dieser Geschichte, wie wir uns irgendwann in der Vergangenheit mal Fesseln anlegen haben lassen - und damals vielleicht noch nicht die Fähigkeiten hatten, uns davon zu lösen. Heute aber haben wir diese Fähigkeit vermutlich - aber wir haben den Glauben, dass wir wohl für immer mit diesen Fesseln leben müssen, seither nie mehr in Frage gestellt.
So möchte ich uns alle mit dieser kleinen Geschichte ermutigen, uns immer wieder auf die Probe zu stellen. Und unsere Kinder immer wieder dazu befähigen es zu versuchen.
Denn der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!
Wie der Elefant die Freiheit fand
von Jorge Bucay
Als ich ein kleiner Junge war, war ich ganz vernarrt in die magische Welt des Zirkus. Alles an der Zirkusvorstellung fand ich zauberhaft und faszinierend, am allermeisten aber freute ich mich immer auf den Auftritt des Elefanten. Das riesige Tier stellte seine eindrucksvolle Grösse, seine Geschicklichkeit und seine Stärke zur Schau. Ganz bestimmt konnte ein solches Mammutgeschöpf mit einem einzigen Ruck einen ganzen Baum ausreissen. Und dennoch.... Zu meinem Erstaunen kettete das Zirkuspersonal den Elefanten nach jeder Vorstellung an einen kleinen Pflock, der kaum eine Handbreit tief in den Boden geschlagen war. Mir kam das ziemlich seltsam vor. Na schön, die Kette war dick und schwer - aber ein
Tier, das kräftig genug war, eine Mauer einzureisen, hätte sich doch spielendleicht von diesem Pflöckchen befreien und weglaufen können. Was hielt den Elefanten zurück? Warum machte er sich nicht aus dem Staub?
Als ich sechs oder sieben war, glaubte ich noch, dass die Erwachsenen auf alles eine Antwort wissen. Also befragte ich meine Eltern, meinen Lehrer und meinen Onkel nach dem Geheimnis des Elefanten. Sie erklärten mir, dass der Elefant sich nicht aus dem Staub machte, weil er gezähmt war. Logischerweise fragte ich weiter: „Und wenn er gezähmt ist und gar nicht wegläuft, warum muss er dann angekettet bleiben?“ Auf diese zweite Frage wusste niemand eine Antwort.
Viele Jahre später lernte ich eines Abends eine sehr weisen Mann kennen, der lange durch die Welt gereist war und mir half die Antwort zu finden. Der Zirkuselefant war schon von klein auf, und zwar von ganz klein auf, an einen Pflock gekettet gewesen.
Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich stellte mir vor, wie er Tag für Tag an der Kette zog und versuchte, sich loszumachen... Ich sah ihn fast vor mir, wie er jede Nacht von der Anstrengung erschöpft einschlief und sich vornahm, es am nächsten Morgen gleich wieder zu probieren. Doch es nützte alles nichts: Der Pflock sass zu fest für ein so junges Tier, obwohl es ein Elefant war. Bis eines Tages, dem traurigsten Tag in seinem kurzen Leben, der kleine Elefant es schliesslich hinnahm, dass er sich nicht befreien konnte, und sich seinem Schicksal fügte.
Auf einmal verstand ich, warum dieser grosse, mächtige Elefant wie ich ihn aus der Zirkusmanage
kannte, angekettet blieb: Er war fest davon überzeugt, dass er sich niemals von seinem Pflock würde befreien können. Dem armen Tier hatte sich sein Scheitern fest ins Elefantenhirn eingeprägt, und nie, niemals wieder hatte es seine Kraft auf die Probe gestellt...
Manchmal träume ich nachts, dass ich zu dem angeketteten Elefanten gehe und ihm ins Ohr
flüstere: „Weisst du was? Wir sind uns ähnlich. Du glaubst wie ich, dass du manches nicht kannst, weil du es vor langer Zeit einmal ausprobiert und nicht geschafft hast. Aber mach dir klar, dass das eine Ewigkeit her ist und du heute viel grösser und stärker bist als damals. Wenn du dich befreien willst, bin ich sicher, dass es auch klappt. Warum versuchtst du es nicht einfach mal?“
Ab und zu denke ich beim Aufwachen, dass es mein Elefant eines Tages tatsächlich versucht und geschafft hat, sich vom Pflock loszureissen... Dann überkommt mich ein Lächeln, und ich stelle mir vor, wie das riesige Tier noch immer mit dem Zirkus herumreist, weil es ihm grossen Spass macht, den Kindern Freude zu bereiten, auch wenn es jetzt natürlich nicht mehr angekettet ist.
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